Neuerscheinung / New Release
VEXER VERLAG
Christoph Gallio / Soziale Musik
1 CD + 2 7“ Vinyl
ISBN 978-3-909090-44-0
CHF 32.­– (exkl. Versandkosten) Euro 25, $ 32 (plus shipping)

Christoph Gallio soprano and alto saxophone
Guests: Andrea Neumann inside piano and mixer, Kazumi voice, Hans Benda electronics, Helmut Erler voice and field recording, Sven-Åke Johansson drums, Jan Roder double bass, Olaf Rupp guitar, Oliver Steidle percussion
Recorded, mixed and mastered by Helmut Erler in Berlin between March and May 2009
Cover Art by Christine Streuli
Liner Notes by Björn Gottstein
Graphic Design by Anne Hoffmann
Web Design and Animation by Ulla Morgenroth
Composed, made by measure and produced by Christoph Gallio

„Soziale Musik“ ist ein Solowerk. Es besteht aus 147 äusserst kurzen Loops. Das Instrument Saxophon wird nicht auskultiert und mit innovativem Eifer zerlegt, sondern vielmehr auf seinen Sprachcharakter hin abgetastet. Kein Katalog der Möglichkeiten also, sondern eher eine Sammlung von Klangsituationen, die sich lose aufeinander beziehen lassen. Das „Nichts“ – also die Abstände zwischen den Loops – hat den gleichen Stellenwert wie die Musik. Man kann das Werk als „Audio Poverty“ bezeichnen.
Das Projekt „Soziale Musik“ will die Hörer beteiligen. Um sich der „sozialen“ Musik zu bedienen, braucht es keine musikalischen Kenntnisse. Der Verzicht auf „erlernte“ Rollen (Produzent / Konsument) öffnet den Raum für ein freies Umgehen mit Musik.
Die CD ist frei duplizierbar. Jeder kann sie im Zufallsmodus, nach Belieben zeitverschoben, stop and go, auf mehreren Geräten in einem Raum, im ganzen Haus oder im öffentlichen Raum abspielen. Der Hörer kann/darf sich am Entstehungs-Prozess der Musik beteiligen.
Die 7“ Schallplatten können auch von DJs oder Klangkünstlern benutzt werden und einzelne Musikteile für andere, neue Musikprojekte gesamplet oder verfremdet werden. Neben 45 rpm ist auch die LP-Drehgeschwindigkeit (33 ⅓ rpm) möglich.
Die bis ins letzte Detail durchgestalteten Tonträger kann man sich aber auch „passiv“ anhören und dazu seine eigenen Geschichten erfinden.
Durch das Hinzuziehen von Gästen wird die Idee und das Bedürfnis, andere teilnehmen zu lassen, auch auf die Ebene des Produzenten verlagert.
Abgerundet wird die Produktion mit der Website www.soziale-musik.ch, welche noch eine weitere Ebene öffnet.

„Soziale Musik“ (social music) is a solo oevre and consists of 147 very short loops. The saxophone is not osculated or dissected with innovative zeal, but rather scanned for its linguistic character. Not a catalog of possibilities, but rather a collection of sound situations that can be linked to one another in a loose fashion. The silence, the spaces between the loops, is just as important as the music. We could have called this oevre "audio poverty".
Soziale Musik wants to encourage the participation of the listener, and for sure, in order to use Soziale Musik, one doesn't have to know a lot of music. The absence of the traditional roles of producer and consumer opens the door for a free dealing with the music.
The listener has the possibility to make copies of the CD. He can listen to the CDs in the random or stop and go mode, time shifted, using several CD players, or in one or many rooms - in and outdoors. The 7" vinyls can be played at 45 rpm and at 33 ⅓ rpm. The singles can be used by DJs or sound artists. The loops can be sampled and used for new sounds or other musical projects. These meticulously designed sound carriers are of course also intended for the passive listener, who would be welcome to discover his own world.
And as the listener has been invited to participate so have musical guests been invited to participate on the side of the production.
The website www.soziale-musik.ch complements this production which will continue to develope and evolve over time.




CHRISTOPH GALLIO Soziale Musik (Vexer Verlag, CD + 2 x 7“)


Da ist einiges anders als üblich. Ein Triptychon gemischt aus CD und Vinyl; die beiden 7“ dürfen ausdrücklich auf 45 rpm oder 33 1/3 rpm abgespielt werden; unser St. Gallener Soprano- & Altosaxophonist knüpfte Sozialkontakte in Berlin. Besonders unüblich ist die Zahl der Tracks: 94! + 26! + 26! Es sind Bausteinchen, Miniaturen, Bagatellen, Mosaikpartikel von teils unter 10, selten mal über 30 Sekunden, die Gallio allein oder mit Freunden kreiert hat. Insgesamt 146 Loops, Gallio nennt sie auch ‚Klangsituationen‘, sind aufgefädelt in eine compact-lange (29 Min.) und zwei vinyl-kurze Sequenzen von Gallio-Solos und eingestreuten Duetten, abwechselnd mit Olaf Rupp (Gitarre), Hans Benda (Electronics), Andrea Neumann (Innenklavier & Mixer), Oliver Steidle (Percussion), Jan Roder (Kontrabass), Helmut Erler (Stimme & Feldaufnahmen), Kazumi (Stimme) und Sven-Åke Johansson (Drums). Wir Hörende sind eingeladen, sie ad random abzuspielen, synchron oder asynchron, eben nach Belieben, am besten auf mehreren Abspielgeräten. Dazu kommen auf http://soziale-musik.ch 4 x 4 weitere Minuten plus 30 Überraschungen, die sich wie ein Samplingkeyboard spielen lassen und weitere Spielfiguren liefern, so dass man das Hörfeld bis zum Rauschen sättigen kann. ‚Sozial‘ als interaktives und kommunikatives ‚Zusammen‘ dient als Überschrift, die Lizenz zum Kopieren und Weiterspielen versteht sich bei dieser Einladung zum Mitspielen fast von selbst. Natürlich kann man das auch allein hören und einschichtig und linear als minimalistische ‚Audio Poverty‘. Auch so erfolgt sozialer Anschluss, 146 Impulse, Irritationen, Verzierungen, Modulationen des Raum-Zeitgefüges. Die eigenen vier Wände werden porös, das Für-Sich-Sein ohrwurmstichig. Gallio bläst kleine Kreise aus geschwungenen, gezackten oder getrillerten Wellen, gelegentlich zieht er auch gerade Striche. Die Duette bringen ein weiteres Geräusch ins Spiel, das aber genügt, um einen den Kopf heben zu lassen - Was ist das? Das ganz verschiedenartige Rappeln, Klimpern, Plonken und Sägen spitzt einem die Ohren, die seltenen Stimmen erst recht. Stimmen sind nie bloß Geräusch, sondern immer gleich ‚Mensch‘.

Bad Alchemy 67, Rigobert Dittmann




Frische Momentaufnahmen

Gallio, Christoph: Soziale Musik
Eine Edition mit zwei Vinylplatten und einer CD
VEXER Verlag

„Soziale Musik“ – da schwingt einiges mit: An Joseph Beuys´ radikaldemokratische Kunstvisionen seiner „sozialen Plastik“ denkt man da oder an die „öffentliche“ Musik eines Mauricio Kagel in Form von Eine Brise für 111 klingelnde Radfahrer (1996). Wie Kagel will Christoph Gallio aktivieren. Eigene Versionen aus seinen 146 Klangsituationen kann der Hörer erschaffen, sie neu arrangieren, sie – so Björn Gottstein im informativen Booklet-Text – entweder zu einem zufallsträchtigen „Mosaik“ oder „Mobile“ verknüpfen. Doch nicht nur das: Zwei 7-Zoll Vinylplatten legt Gallio seiner liebevollen Edition bei. Freizügig können DJ´s oder Klangkünstler sie verwenden für andere Musikprojekte oder einfach zum würzenden scratchen anderer Musik.
Sehr konzeptlastig, ja utopisch klingt das, schließlich experimentiert nicht jeder mit Audio Files und DJ oder Klangkünstler ist weder jedermann noch jederfrau. Aber Gallio wäre kein feiner Demokrat, wenn er für den passiveren Musikliebhaber nicht noch andere Varianten in petto hätte. Eine CD bietet 94 Stückchen, die im Schnitt 15 Sekunden dauern mögen. Völlig unprätentiös kommen diese Loop gesättigten Miniaturen daher. Oft bestehen sie aus tonlos-luftigen Saxophon-Beigaben, mal aus stark verhallte Stimmen, mal aus auf- und abschwellenden Tonwiederholungen einer Gitarre.
Mit „klassischen“ Kriterien ist solch einer Musik nicht beizukommen. Nichts hat sie zu tun mit motivischer Verknüpfung, mit ausgefeiltem Tonsatz oder gar formaler Bündigkeit. Dafür besticht „Soziale Musik“ durch eine Direktheit und eine poetische Leichtigkeit, die kaum ihresgleichen haben. Wollte sich jemand auf die Suche nach einem Vorläufer machen, er fände ihn vielleicht in Erik Satie. Solch eine Quellenfindung geht aber am Wesentlichen vorbei. Die so erfrischenden Momentaufnahmen verdanken sich vor allem der „zerstreuten“ Lebenswirklichkeit unserer Tage.

Schweizer Musikzeitung, Torsten Möller




CHRISTOPH GALLIO
soziale musik (2 x 7-inch + CD)
Vexer / rec: 10
Christoph Gallio (as, ss); Gäste: Kazumi (voc), Hans Benda (e), Helmut Erler (voc, rec), Sven-Ake Johansson (dr), Jan Roder (b), Olaf Rupp (g), Oliver Steidle (perc)
Sage und schreibe 147(!) – in Worten: einhundertsiebenundvierzig – Tracks finden auf dem jüngsten Streich von Christoph Gallio Platz. Gallio, Initiator und Eigentümer der percaso records (siehe die Kleine Labelkunde in freiStil #32) hat hier auf zwei Vinyl-Singles und einer CD fast unzählige Kürzel, Skizzen und Miniaturen aufgenommen, die er in kurzen Loops zusammenfasst und solo oder mit ausgewählten Gästen interpretiert. Den sozialen Charakter von Christoph Gallio vermittelt er im freiStil-Interview unmissverständlich. Übersetzt auf die eigene Musik unter dem Titel „Soziale Musik“, findet dieser Charakter wenig überraschend, also konsequent seine Fortsetzung. Völlig selbstverständlich geht es dem Verursacher dieser Stückeflut keineswegs um Idyllen, Romantik oder Naturalismus. Ganz im Gegenteil: Unser Mann aus der Schweiz tendiert zum Dadaismus und vor allem zum Fluxus. Also besteht Gallio darauf, dass es komplett egal sei, mit welcher Geschwindigkeit die „Soziale Musik“ auf Platte abgespielt werde, ob mit 45 oder 33 1/3 Umdrehungen. Das Resultat wird dem Publikum überlassen. Beliebigkeit im besten Sinn durchzieht diese Musizierpraxis, weil sie die Theorie radikaler Demokratie mitdenkt.

freiStil, (felix)




Schwingung, Klang und Kunst
Christoph Gallios «Soziale Musik»

«Soziale Musik» nennt Christoph Gallio seinen jüngsten musikalischen Streich. Der Titel liest sich wie ein ästhetisches Programm. Aber auch wie ein Rätsel: Was hat man sich denn unter sozialer Musik vorzustellen, bzw. was wäre asoziale Musik? Wer diese Frage zu beantworten sucht, betreibt theoretisch musikalische Grundlagenforschung. Und vielleicht ist es ja gerade auch das, was Gallio mit seiner eigenartigen Musik anregen möchte.
Wundertüten-Karton
Das vielfältige, wortwörtlich vielfältige Album des Badener Saxofonisten birgt in einem Wundertüten-Karton zwei Vinyl-Singles, eine CD sowie Liner-Notes des deutschen Musikwissenschafters Björn Gottstein, der die soziale Praxis des Musizierens hervorhebt (und dabei etwa an Konzerte erinnert, wo ein Ensemble von Musikern auf Zuhörer trifft). Gallio überrascht nun allerdings durch kühle Sound-Kürzel oder Fragmente, die sich über die CD und die Vinylscheiben verteilen; meistens dauern sie nicht länger als zwanzig, dreissig Sekunden. Man denkt zunächst eher an musikalische Atome, an klangliche Monaden als an sozialen Magnetismus. Bald vernimmt man ein stetiges Drei-Ton-Motiv – fertig. Bald wird ein Ton überblasen – fertig. Bald surrt eine Gitarre. Bald hört man die Atmung und wie der Atem durchs Saxofon zieht.
Zumeist werden die Kürzel von Klängen des Sopran- oder Altsaxofons dominiert. Gallio hat indessen mit diversen Musikern zusammengearbeitet: einerseits mit der Vokalistin Kazumi sowie mit den Instrumentalisten Olaf Rupp (Gitarre), Jan Roder (Bass), Oliver Steidle (Perkussion) Sven-Åke Johansson (Schlagzeug), die in einzelnen Stücken jeweils Geräusche oder Töne eines traditionellen Instrumentalklangs hinterlassen. Andrerseits sorgen Andrea Neumann, Hans Benda und Helmut Erler für die elektronische Bearbeitung und Verfremdung der akustischen Klangmuster. Oft fühlt man sich dem Sound-Geschehen dieser musikalischen Lappalien akustisch so nahe, als befände man sich selbst inmitten musikalisch arbeitender Organe und Muskeln. Andere Nummern wiederum muten eher mechanisch an – etwa durch sirenenartige Motive oder durch regelmässige Schwingungen der Luft.
Als Hörer schwankt man zwischen den Rollen des Forschers und des Geniessers. Diese mikroskopische Musik gibt Aufschluss darüber, wie sich Schwingungen in Sound verwandeln und sich zu Klangmolekülen bündeln, die schliesslich musikalisch signifikant sind – so dass man für einen Augenblick an eine Spieldose gemahnt wird; woanders wiederum an Free Jazz. So erweisen sich die Fragmente aber plötzlich als Elementarteilchen eines musikalischen Codes, der kommunikative, mithin soziale Bindungen ermöglicht.
Ästhetische Kontemplation
Wie fast jede Minimal-Ästhetik bietet die «Soziale Musik» dabei auch die Möglichkeit zur ästhetischen Kontemplation, zur Konzentration auf Wesentliches, auf das Wesen von Musik. Allerdings ist es vom Wesentlichen zum Banalen oft nicht viel weiter als einen Gedankensprung – denkt man sich, während man die Tonträger wieder versorgt in den schönen Kartonhüllen, die alle die Bilder von Gitter- bzw. Netzmustern tragen . . . Aha! Auch das gibt wohl Aufschluss über soziale Musik – gute Cover-Art wie hier ist eben Teil der Album-Ästhetik (und fehlt einem deshalb beim Download). Das Netz symbolisiert die Verknüpfung musikalischer Grundstrukturen: Jeder Hörer wird die Klangkürzel an seine bisherige Erfahrung binden. Konkreter könnte man sich auch einen gewieften DJ vorstellen, der die Kürzel in seinen persönlichen Mix einflicht. – Die Chance zum vernetzenden Spiel sozialer Musik bietet sich übrigens auch auf einer Website, die Gallio eingerichtet hat: auf dem anregenden Portal www.soziale-musik.ch.

Neue Zürcher Zeitung, Ueli Bernays


Entering the stage, bowing, playing a sound, wiping the sweat from one’s brow, receiving applause, shaking hands and having a beer. Music is social practice, an act of community that can by no means be reduced to sound.
Putting down the instrument does not mean ceasing to be a musician. Picking up the instrument, one remains a social being who interacts with others. Even the most solitary meditation stands in a communicative context, the most intimate message communicates something. “Asocial music” is thus inconceivable, even if there are naturally artists who reject the communicative consensus, by slapping or cursing their listeners, for example. But what would be a music that is “social” in the emphatic sense of the word?
For his Soziale Musik (Social Music), Christoph Gallio cooperated with various Berlin musicians. Naturally, this is also about drinking a coffee with Olaf Rupp, or having a piece of cake with Sven-Åke Johansson. The sounds then become a framework within which social activity can leave a mark. The sound is impulse and event at the same time. For this reason, too, social music cannot be an expansive epos, because music would then get in its own way and block its social opening. The open, sparse form in an expression of its social character.
Gallio’s miniatures could be called ornaments or incunabula, sentences, or components. They are signatures, tests, and abbreviations. Gallio combines the parenthetical quality of a bagatelle with the concentration of a musical aphorism. The essential and the incidental become one, the Aristotelian distinction between substance and accident becomes obsolete. The repetitive inner structure of the individual pieces prevents narrative links without violating the linguistic character of the music. Rhetorical figures can be read out of the individual measure: between melancholy and loneliness, intimacy and agitation, pain or simply boredom.
The instrument is not osculated or dissected with innovative zeal, but rather scanned for its linguistic character. Not a catalog of possibilities, but rather a collection of sound situations that can be linked to one another in a loose fashion. Here, the metaphor of the web is central, not just to prevent narrative linearity, but as presented form, which Gallio only alludes to and does not perform in its entirety. The 94 sound situations can be combined into network-like constructions. From the condensed superimposition to the thinning individuation of the measure, anything is possible. The networking of the sound moments is left to the listener. They appear, depending on access, as a mosaic or as a mobile. The listener closes or opens the work.
Social music is urban music. It has to do both with alienation and isolation, as well as recapturing social community in the urban context. Gallio’s duets with Berlin artists and musicians allude to simple, binary links. They are labile relationships and fleeting acquaintances that take on resonant form. The episodic aspect of the musical moment corresponds to the erratic horizon of experience that is urban everyday life.
The telephone rings. We meet an acquaintance on the street. An airplane flies overhead. Life is musical practice, an aesthetic act that can never be reduced to purpose or necessity.

Björn Gottstein


... die Bühne betreten. Sich verbeugen. Einen Ton spielen. Sich den Schweiß von der Stirn wischen und den Beifall entgegen nehmen. Hände schütteln und ein Bier trinken. Musik ist soziale Praxis. Ein Akt der Gemeinschaft, der sich keinesfalls auf den Klang reduzieren lässt.
Wer sein Instrument beiseite legt, hört nicht auf Musiker zu sein. Wer es zur Hand nimmt, bleibt ein soziales Wesen, das mit anderen interagiert. Noch der einsamste Ton steht in einem kommunikativen Zusammenhang. Noch die intimste Meditation teilt sich mit. "Asoziale Musik" wäre mithin gar nicht denkbar, auch wenn es natürlich Künstler gibt, die eben jenes kommunikative Einverständnis aufkündigen, indem sie beispielsweise ihre Hörer ohrfeigen und beschimpfen. Was aber wäre eine Musik, die im emphatischen Sinne des Wortes "sozial" ist?
Christoph Gallio hat für seine Soziale Musik mit verschiedenen Berliner Musikern kooperiert. Es geht dabei selbstverständlich auch darum, mit Olaf Rupp einen Kaffee zu trinken, bei Sven-Åke Johansson ein Stück Kuchen zu verzehren. Die Töne werden dann zu einem Rahmen, innerhalb dessen sich soziale Tätigkeit niederschlagen kann: Der Klang ist gleichzeitig Impuls und Ergebnis. Auch deshalb kann die soziale Musik kein ausladendes Epos sein, weil sich die Musik dann selbst im Wege stünde und ihre gesellschaftliche Öffnung verhinderte. Die offene, punktuelle Form ist Ausdruck ihres sozialen Charakters.
Man könnte Gallios Miniaturen Ornamente nennen oder aber Inkunabeln, Sentenzen oder Versatzstücke. Es sind Signaturen, Proben und Kürzel. Gallio verbindet die Beiläufigkeit einer Bagatelle und mit dem Konzentrat eines musikalischen Aphorismus. Das Haupt- und das Nebensächliche werden eins, die aristetolische Unterscheidung von Substanz und Akzidenz obsolet. Die repetitive Binnenstruktur der einzelnen Nummern verhindert narrative Zusammenhänge, ohne dass Gallio den Sprachcharakter der Musik verletzt. Es lassen sich durchaus rhetorische Figuren aus den einzelnen Takes herauslesen: zwischen der Melancholie und der Einsamkeit, der Intimität und der Agitation, dem Schmerz oder gar einfach der Langeweile.
Das Instrument wird nicht auskultiert und mit innovativem Eifer zerlegt, sondern vielmehr auf seinen Sprachcharakter hin abgetastet. Kein Katalog der Möglichkeiten also, sondern eher eine Sammlung von Klangsituationen, die sich lose aufeinander beziehen lassen. Die Metapher des Netzes ist dabei zentral, nicht nur um erzählerische Linearität zu verhindern, sondern als vorgestellte Form, die Gallio allerdings nur andeutet und nicht vollständig ausführt. Die 94 Klangsituationen lassen sich beliebig zu netzartigen Konstrukten kombinieren. Von der verdichtenden Überlagerung bis hin zur ausdünnenden Vereinzelung der Takes ist alles denkbar. Die Vernetzung der Klangmomente ist dem Hörer überlassen. Sie erscheinen, je nach Zugriff, als Mosaik oder als Mobile. Der Hörer schließt oder öffnet das Werk.
Soziale Musik ist urbane Musik. Sie hat sowohl etwas mit Entfremdung und Vereinsamung, als auch mit der Zurückeroberung der sozialen Gemeinschaft im städtischen Umfeld zu tun. Gallios Duette mit Berliner Künstlern und Musikern deuten einfache, binäre Verknüpfungen an. Es sind labile Beziehungen und flüchtige Bekanntschaften, die tönend Gestalt annehmen. Das Episodische des musikalischen Augenblicks entspricht dem sprunghaften Erlebnishorizont des städtischen Alltags.
Das Telefon klingelt. Man trifft einen Bekannten auf der Straße. Ein Flugzeug fliegt vorüber. Das Leben ist musikalische Praxis. Ein ästhetischer Akt, der sich keinesfalls auf Zweck und Notwendigkeit reduzieren lässt ...

Björn Gottstein


© 2009 PERCASO

www.percaso.ch
www.bmo-media.com